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Leseprobe aus "Blickwinkel - Kurzgeschichten über den Tellerrand hinaus"

Großstadtninja

Oh, was hasste er die Großstadt, doch ein oder zwei Mal im Jahr musste er dann doch hier her, musste raus aus seiner Idylle seines Einsiedlerhofs tief in den Alpen, um die wenigen geschäftlichen Termine bei Banken oder Versicherungen wahrzunehmen. Sicher ginge es heutzutage auch einfacher. Doch wenn er eins noch mehr hasste, dann war es Telefonieren, oder gar noch schlimmer, wenn einer der herausgeputzten, wie geleckt aussehenden Versicherungsvertreter bei ihm auf dem Hof aufschlug. Sein Hof war sein Reich. Nur eine Handvoll Menschen duldete er dort. Am liebsten war er allein und versorgte sich selbst. Kartoffeln, Gemüse, Hühner und einmal im Jahr eins der Schweine, das reichte ihm völlig. Er war gerne allein und nun, nun stand er hier am Eingang der verhassten Einkaufspassage, in der ausgerechnet seine Bank die Filiale hatte. Vor einigen Jahren hatte die Fahrt ineinen Vorort von München gereicht. Doch das Bankensterben hatte auch diese Filiale erreicht. Schon die Fahrt in die Münchner Innenstadt war eine Katastrophe für ihn. Das aufdringliche Hupen und rücksichtslose Gedränge. Überall befanden sich
nur Egoisten. Sie waren der Grund, warum er vor zwei Jahrzehnten ausgestiegen war. Sie und der Tod seiner Frau. In dieser Zeit hatte er gemerkt, wie schnell man alleine ist. Die sogenannten besten Freunde zogen sich zurück. Das Haus, in dem er mit seiner Frau gewohnt hatte, war leer und für ihn alleine viel zu groß. Als der Druck auf ihn in der international agierenden Firma immer weiter wuchs und er das Gefühl hatte, als Abteilungsleiter alleine alle Erwartungen erfüllen zu müssen, hatte er einfach gekündigt. Das Geld würde schon reichen. So war er eines Morgens einfach in das so kühl eingerichtete Büro seines Chefs marschiert, hatte ihm die fristlose Kündigung auf den Tisch geknallt und war einfach nicht mehr wiedergekommen. Der malerisch in einem kleinen Tal gelegene, kleine Hof hatte früher dem Opa seiner Frau gehört. Nachdem sie die Anlage geerbt hatte, richtete er zusammen mit seiner Frau in mühsamer Kleinarbeit an zahlreichen Wochenenden die alten Gebäude her und zusammen zogen sie anschließend ein. Es war ja alles vorhanden. Denn schon über einige Jahre hinweg waren dort gemütliche Ferienwohnungen
ständig vermietet gewesen. Nicht all seinen Feriengästen konnte er damals direkt absagen. Aber drei Monate nach dem Einzug, war auch der letzte endlich weg. Wobei dies nicht ganz stimmte! Es gab tatsächlich noch einen Stammgast, der seit den Anfängen jedes Jahr eine Woche zu Gast gewesen war. Ein Ostfriese! Ruhig, aber herzlich! Von Anfang an waren sie sich sympathisch gewesen und so war dieser Mann eine der wenigen Personen, die Zutritt
zu seinem einsamen Reich hatten.

Nun aber war er in der Stadt. Die grüne Einsamkeit der Wiesen und Wälder um seinen Hof boten keinen Schutz mehr vor Lärm und Hektik der Großstadt. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Wie hat er nur früher hier in all diesem Mief leben können? Die Geräusche und Gerüche trieben ihn schon nach wenigen Minuten in den Wahnsinn. Er atmete durch, konzentrierte sich auf sein Vorhaben und trat aus dem Hauseingang heraus, in den er sich vor ein paar Minuten zurückgezogen hatte. Er grinste sogar ein wenig, als er daran dachte, dass der Ostfriese ihm aufgrund seines Verhaltens in der Großstadt einen Spitznamen verpasst hatte. Es musste so circa zwölf Jahre her sein, als sie bei einer Flasche Rotwein über die Hektik und den Alltagsstress der heutigen Zivilisation philosophierten und er seinem
Stammgast von seinem Verhalten erzählte. Sie beide hatten herzhaft gelacht und seit diesem Zeitpunkt war er der Ninja der Großstadt.

Er stürzte sich in das Getümmel und beobachtete dabei die Bewegungen seiner Mitmenschen. Im Kopf berechnete er ihre Laufwege und versuchte ihre Reaktionen vorherzusehen. Mit der Zeit war er darin immer besser geworden und so bewegte er sich mit geschmeidigen Bewegungen durch die Menschenmassen, immer wieder darauf bedacht, niemanden auch nur zu berühren. Geschickt wich er dabei allen Hindernissen aus, die ihm dabei im Weg standen. Meistens waren es irgendwelche Gegenstände, die in Unachtsamkeit den vorbeilaufenden Personen vor die Füße geworfen wurden oder es waren Zulieferfahrzeuge, die kompromisslos durch die Fußgängerzone jagten, als wären sie auf einer wilden Großwildjagd. Die schlenkernden Einkaufstüten der Passanten waren für ihn das kleinere Problem, auch wenn diese teilweise nur schwer vorhersehbar durch die Luft tanzten.

Mit der Hilfe von Kopfhörern, die ihn mit ruhiger klassischer Musik umhüllten, blendete er die vielen Geräusche der Umgebung vollständig aus. So tanzte er fast spielerisch zwischen den zahlreichen Leuten hindurch, schlängelte sich an dutzenden Kisten, Stühlen, Tischen und Werbeaufstellern vorbei. Nach knapp zwölf Minuten hatte er den Weg zu seiner Bankfiliale hinter sich gebracht. Er atmete tief durch, drehte sich noch einmal in Richtung Einkaufspassage um, deute eine Verbeugung an und verschwand in der Filiale. Er betrat die Eingangshalle und entledigte sich dabei mit einer unscheinbaren Bewegung seiner Kopfhörer. Hier war es zwar ruhiger als draußen, aber auch hier hörte er die Geräusche der modernen Welt. Es piepste, klapperte oder sirrte. An mehreren Arbeitsplätzen wurden angeregte Beratungsgespräche geführt und vermischten sich mit dem Klappern von Absätzen zu einem allgemeinen Grundgeräusch. Er hasste das so sehr. Also verlor er keine Zeit und ging auf direktem Weg zum Schalter. Nach kurzer Wartezeit hatte es die Bankangestellte endlich geschafft, seinen Ansprechpartner ans Telefon zu bekommen und so saß er nach knapp zehn Minuten endlich in einem fast ruhigen Büro. Dort wartete er ungeduldig darauf, dass der junge
Mann vor ihm endlich sein Telefonat beendete. Früher hätte es das nie bei ihm gegeben. Wenn er am Telefon war, dann war er am Telefonieren und kümmerte sich um die Belange seines Gesprächspartners. Da hatte niemand etwas in seinem Büro verloren. Aber das war dann der heutige Datenschutz. So erfuhr er über die Zahlungsnot eines Bankkunden bei einem Bankkredit. Ob er schon mal nach dem Termin der Zwangsversteigerung des Hauses nachfragen sollte? Bei diesem Gedanken musste er dann doch etwas schmunzeln. Nachdem er dann endlich die volle Aufmerksamkeit des Angestellten hatte, hetzte er diesen schon fast durch das Gespräch. Egal, was sein Gegenüber auch probierte, er ließ sich nicht ablenken und so blieb es ausschließlich nur bei den Dingen, die er zu klären hatte. Innerhalb von kürzester Zeit war alles geregelt, die Kopfhörer aufgesetzt und so stand erwieder vor der Bank.

Eine dichte Menschentraube drohte ihn hier direkt mitzureißen. Eine der zahlreichen Städteführungen kam gerade aus der anderen Richtung. Erst im allerletzten Augenblick konnte er den vielen Versuchen der Passanten und Touristen, ihn
anzurempeln, ausweichen. So tänzelte er spielerisch zu seinem nächsten Termin. Sein Versicherungsmakler hatte ein kleines Büro nur wenige hundert Meter von der Bank entfernt. Eilig schloss er die Tür wieder hinter sich und entfernte elegant die hochwertigen Kopfhörer.

Das kühle Büro wirkte auf den ersten Blick still. Doch es war so steril eingerichtet, wie es nur bei einer Versicherung der Fall sein konnte. Er wiederholte sein Spiel, das er mit dem Bankangestellten getrieben hatte auch mit dem Versicherungsvertreter und war keine fünfzehn Minuten später auf dem Rückweg zu seinem Auto. Am Eingang des
Parkhauses hatte schon vorhin ein Obdachloser unaufdringlich nach etwas Geld gebettelt. Jetzt war er gerade damit beschäftigt, sich gegen eine Gruppe von Jugendlichen zu erwehren, die ihn vor den Augen zahlreicher Schaulustiger über den kleinen Platz vor dem Parkhaus schubsten und anpöbelten. Niemand griff ein. Er allerdings zögerte gar nicht
erst. Im gleichen Stil wie auf dem ganzen Weg tänzelte er durch die Schaulustigen hindurch und mitten in den Kreis der Jugendlichen. Schützend stellte er sich vor den alten und zerzausten Obdachlosen. Der Mann duckte sich im Schutze seines Rückens zusammen, während die Jugendlichen den Kreis enger schlossen. Der Wortführer der Gruppe versuchte sich am meisten aufzuspielen. Erst waren es zahlreiche Schimpfworte, die flogen, dann eine Faust. Lachend wich er der heranfliegenden Hand aus und sie ging ins Leere. Weitere Schläge folgten, doch der Großstadtninja wich aus. Immer lauter wurde sein Lachen, während die Schläge des Jugendlichen in immer dichterer Reihenfolge ins
Leere gingen. Als zwei weitere Mitglieder der Gruppe in das Geschehen eingreifen wollten, packte er den Arm des Anführers und drehte ihm dieses schmerzhaft auf den Rücken, um ihn anschließend angewidert wegzuschubsen. Perplex blieb der junge Mann auf Abstand. Mit Gegenwehr hatte er wohl nicht gerechnet. Erst jetzt kam Bewegung in die Gruppe der Schaulustigen, und während einige sich helfend um den Obdachlosen versammelten und sich nach ihm erkundigten, verteilten sich die restlichen Gaffer in den angrenzenden Straßen. Auch der Ninja schlich sich leise und ohne ein Wort davon.

Er brauchte keinen Dank. Für ihn als „Gentleman alter Schule“ betrachtete er sein Verhalten als das Normalste von der Welt. Er sehnte sich nun nur nach der Einsamkeit, nach der Stille der Berge. Weit weg von den Zwängen der Zivilisation und ihrem Stress, der Hektik und dem Lärm. Weg von den Egoisten dieser Welt und zurück zu dem Ort, wo er die Zeit beherrschte und nicht die Zeit ihn.


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